Hessischer Bildungsserver / Individuelle Förderung

Kindern mit (und ohne) ADHS Erfolge ermöglichen

Ein Loblied auf ADHS…

von Gordon Wingert & Niclas Dittmann

… titelte ein Artikel der Meinungskolumne in der New York Times vom 17. März 2018. Die Grundaussage lautete: Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind möglicherweise besser für die moderne Informationsgesellschaft gerüstet. Ihre Fähigkeiten, eine Vielzahl an Informationen gleichzeitig aufzunehmen, neue Informationen weniger gefiltert zu verarbeiten und dadurch in Windeseile mit kreativen Ideen auf Probleme zu reagieren, seien in besonderem Maße hilfreich in Zeiten hoher Daten- und Nachrichtenfluten. Seine 90-jährige Großmutter bringe es auf den Punkt: Nicht die Kinder müssten langsamer werden, sondern die Erwachsenen schneller!

Erwartungsgemäß erntete der Kolumnist Leonard Mlodinow, Wissenschaftsautor und Freund und Biograf von Stephen Hawking, neben Zuspruch auch eine Vielzahl an Kritik. So stünden der beschriebenen Kreativität häufig Defizite im Gedächtnis, der Verarbeitungsgeschwindigkeit und der Motivationsregulation im Wege. Dies führe häufig zu Problemen im sozialen und schulischen Umfeld, welche massive und vielschichtige Probleme nach sich ziehen.

Was ist also richtig? Müssen wir als Eltern und Lehrkräfte schneller werden und auf die Ressourcen unserer Kinder vertrauen? Oder müssen wir sie kontinuierlich begleiten und durch hoch strukturierte Interventionen fördern? Die Antwort liegt - wie sooft - in der Mitte. Am Ende ist jedes Kind individuell und die Aufgabe ist immer dieselbe: Die passenden Hilfen für genau dieses Kind zu finden, die ihm und ihr langfristig Erfolge ermöglichen.

 

 

ADHS ist keine Bagatelle

Eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine der am weit verbreitetsten Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Banaschweski & Döpfner, 2014). Eine ADHS tritt in etwa bei 3-7% der Kinder auf (Barkley, 1997). Dabei liegt das Verhältnis von Jungen zu Mädchen bei etwa 3:1 (Barkley, 1997).

            Diagnostisch sind besonders drei Symptome relevant. Diese sind Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit (Gawrilow & Blume, 2019). Die Symptomatiken können in ganz unterschiedlichen Settings auftauchen, z.B. in der Schule, zu Hause oder im Umgang mit der Gleichaltrigen. Die Symptome sind dabei überdauernd (über einen Zeitraum von über sechs Monaten) und treten vor dem 12. Lebensjahr auf (Gawrilow & Blume, 2019).

      Die Probleme im Bereich der Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit haben unterschiedliche Gründe für ihr Auftreten. Beispielsweise werden Exekutive Dysfunktionen als eine Ursache betrachtet. Eine Exekutive Dysfunktion ist eine Beeinträchtigung in Abläufen einer übergeordneten Struktur, diese beinhaltet z.B. Selbstkontrolle, das Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität etc. Weist eine Person ein Defizit in den vorher genannten Bereichen auf, lässt sich von einer Exekutiven Dysfunktion sprechen (Silverstein et al., 2018; Barkley, 1997; Miranda et al., 2011). Weitere Gründe werden in der Literatur biologischen Voraussetzungen zugeschrieben. Neben diesen ist auch das soziale Umfeld ein wichtiger Bestandteil im Rahmen aktueller Forschung (Ziereis, 2014).

 

Der systemische Blickwinkel

ADHS ist eine komplexe Herausforderung für die Betroffenen. Ihr Umfeld steht besonderen Schwierigkeiten gegenüber. Es muss der Spagat zwischen Bagatellisieren und „mit Kanonen auf Spatzen schießen“ gefunden werden. Es ist also notwendig zu schauen, wie viel Hilfe der junge Mensch benötigt. Außerdem beschränkt sich die Problematik nicht nur auf einen Lebensbereich (siehe oben). Der Frage wo überall Hilfe gebraucht wird, muss ebenfalls nachgegangen werden. Eine isolierte Hilfestellung in nur einem Lebensbereich (z.B. nur in der Klasse oder nur zu Hause oder ausschließlich in einer Therapie) wird bei leichter bis mittlerer Ausprägung vielleicht ausreichen, nicht jedoch bei massiveren Notlagen.

Die Marburger Schulpsychologie beschäftigt sich seit Anfang der 90er Jahre mit der Frage, was jungen, unkonzentrierten Menschen dabei hilft, erfolgreich zu sein. Vor dem Hintergrund hunderter durchgeführter Trainingsprogramme, -fahrten und der Beratung und Supervision steht ein Konzept mit zwei grundsätzlichen Vorgehensweisen im Zentrum:

1.) Einbindung von Eltern und Lehrkräften.

2.) Prävention und Intervention auf unterschiedlichen Ebenen.

Im Rahmen von Eltern- und Lehrkräftetreffen werden die primären Bezugspersonen auf das Thema sensibilisiert. Darüber hinaus sind - orientiert am RTI Modell (Response to Intervention Modell, Grosche & Volpe, 2013, Krowatschek & Wingert, 2019, Wingert & Dittmann, in Vorb.) - Angebote für drei Ebenen des Unterstützungsbedarfs Bestandteil des Konzeptes:

  • Ebene 1: Konzentrations- und Verhaltensförderung für alle Schüler*innen durch Vermittlung der psychologischen Voraussetzungen von Unterricht.
  • Ebene 2: Konzentrationstrainings in Kleingruppen (z.B. Krowatschek et al., 2019).
  • Ebene 3: Verhaltenstrainings in Großgruppen (z.B. Krowatschek & Wingert, 2019).

Schulen sollten entsprechend überlegen, ob sie ausreichend Unterstützungsangebote entlang dieser drei Ebenen bereitstellen bzw. über Kontakte zu entsprechenden Praxen und Beratungseinrichtungen mit Angeboten verfügen. Auch die enge Zusammenarbeit mit Psycholog*innen und Ambulanzen ist angeraten, damit auch diejenigen Kinder mit Therapiebedarf entsprechende Hilfen erhalten können. 

 

Tipps und Kniffe für den Alltag - Der individuelle Blickwinkel

Die gute Nachricht: Jede*r kann etwas tun, um das Leben für Menschen mit ADHS zu erleichtern:

 

Tipps für Eltern

 

1.) Setzen Sie Strukturen!

Diese bilden das Grundgerüst und vermitteln Kindern (mit und ohne ADHS) Sicherheit. Ein guter Anfang ist ein verlässlicher Tagesablauf. Bestandteile können sein:

  • wiederkehrende morgendliche Routinen,
  • feste Hausaufgabenzeiten,
  • vereinbarte Spiel- und Bildschirmzeiten,
  • eine gleichbleibende Schlafens- und Aufstehzeit (auch am Wochenende),
  • gemeinsame Essenszeiten (mindestens einmal am Tag mit einem Erwachsenen).

 

2.) Geben Sie Ihrem Kind so viel Verantwortung wie möglich!

Wenn Sie Ihr Kind z.B. im Haushalt mithelfen lassen, vermitteln sie Vertrauen in seine oder ihre Fähigkeiten. Das Selbstbewusstsein und die Selbständigkeit steigen. Dies ist ansteckend: Traut es sich in einem Bereich etwas zu, ist die Wahrscheinlichkeit höher, sich auch an anderer Stelle anzustrengen (z.B. bei den Schulaufgaben).

3.) Gehen Sie kleinschrittig vor und loben Sie viel!

Überflutung ist einer der Hauptgründe dafür, dass Kinder mit ADHS an Aufgabenstellungen scheitern. Überlegen Sie sich im Vorhinein, welche Teilschritte eine Aufgabe hat und geben Sie diese nacheinander vor. So führt die folgende Anweisung i.d.R. nicht zum Erfolg: „Schalte den Fernsehe aus, bring’ den Müll weg und setz’ Dich an die Hausaufgabe!“ In vielen Fällen sitzt das Kind dann mit dem Mülleimer vor dem Fernseher. Immerhin ist das ein Teilerfolg! Günstiger ist folgendes Vorgehen: „Schalte den Fernseher aus!“ - Das Kind geht zum TV. „Gut gemacht! Nun bringe bitte den Müll weg!“ - Das Kind entsorgt den Abfall. „Vielen Dank, das ist eine große Hilfe für mich! Nun kannst Du mit den Aufgaben beginnen!“

Ein ähnliches Vorgehen lässt sich bei den Hausaufgaben praktizieren: Ist ein Arbeitsblatt mit Aufgaben überfüllt, untergliedert man es. Dazu zieht man einen geraden Strich unter die Anzahl der Aufgaben, die im ersten, zweiten, möglicherweise dritten Schritt bearbeitet werden sollen. Nach jedem Teilschritt kommt das Kind und wird gelobt. 

 

4.) Lassen Sie sich Aufgabenstellungen erklären bevor Ihr Kind damit beginnt!

Dieses Vorgehen bezeichnet die Psychologie als Abruf. Es trägt der Tatsache Rechnung, dass Kinder viel früher davon ausgehen, eine Aufgabe verstanden zu haben, als dies der Fall ist. Die Frage „Verstanden?“ ist deshalb nur bedingt aussagekräftig. Ist das Kind in der Lage, eine Aufgabe in eigenen Worten zu wiederholen, dann kann es diese auch in Angriff nehmen. Die Frage: „Was sollst Du tun?“ ist ein fester Bestandteil des Marburger Konzentrationstrainings (MKT, Krowatschek et al., 2019) und führt zu einer angemessenen Aufgabenanalyse. Sie findet sowohl zu Hause als auch im Unterricht Verwendung.

 

5.) Bauen Sie immer wieder Phasen der Ruhe ein!

Kinder mit ADHS stehen vielfach unter Druck. Vieles bedeutet für sie eine höhere Anstrengung als für Kinder, die sich gut konzentrieren können. Deshalb beachten Sie als Pi-mal-Daumen-Regel folgende Zeiten für die Pausen bei den Hausaufgaben (nach dem jeweiligen Intervall sollte das Kind für mindestens fünf Minuten zur Ruhe kommen):

Alter                           Zeitintervall

5 - 7 Jahre                   15 Minuten

8 - 10 Jahre                 25 Minuten

ab 10 Jahre                  35 Minuten

Vielen Kindern helfen zusätzlich strukturierte Entspannungsphasen. Diese können in Form von kleinen Geschichten nach dem entsprechenden Zeitintervall bei den Hausaufgaben oder abends als Gute-Nacht-Geschichte erzählt werden. Lesen es die Eltern vor, ist die Wirkung erheblich besser als bei einer Geschichte „vom Band“. Beispiele finden sich viele, u.a. bei Wingert et al., 2015, Petermann, 2001, Krowatschek, 2009.

 

6.) Verwenden Sie Punktepläne!

Diese - manchmal verpönten - Mittel zur Steigerung der Motivation haben in einer „Trickkiste“ genauso ihre Berechtigung wie unsere Bezahlung nach getaner Arbeit! Natürlich setzt man sie nicht leichtfertig ein. Steht Ihr Kind vor besonderen Herausforderungen und hat große Schwierigkeiten damit, sich zu motivieren, kann ihm oder ihr dies sehr helfen. Und vergessen Sie nicht: Punktepläne sind keine Dauerlösung! Wie eine Gehhilfe sollen sie das Kind für eine bestimmte Zeit unterstützen. Hat es die geübte Fähigkeit gelernt, beendet man den Punkteplan. Tipp: Beim Punkteplan gibt es einige Besonderheiten zu beachten. Lassen Sie sich vor der Anwendung beraten. Viele glauben, die Methode verstanden zu haben und richten durch Halbwissen mehr Schaden an, als dass sie Gutes tun. In den Staatlichen Schulämtern können Sie sich durch Schulpsycholog*innen beraten lassen. Diese sind fundiert in der Anwendung ausgebildet und helfen Ihnen gerne weiter.

 

7.) Der wichtigste Tipp: Liebe, Liebe, Liebe!

Auch wenn man es ihnen meistens nicht ansieht: Menschen mit ADHS stehen stark unter Druck. Sie werden oft und von vielen Seiten kritisiert. Ihr Selbstvertrauen leidet darunter. Sie brauchen viel Zuspruch und Liebe, um mit ihren Schwierigkeiten umgehen zu können. Deshalb nehmen Sie sich Zeit für die schönen Seiten des Lebens. Der Psychologie-Professor Manfred Döpfner empfiehlt, sich für jedes Kind mindestens einmal pro Woche eine Stunde Zeit zu nehmen (nach Döpfner & Schürmann, 2017). In dieser Zeit darf das Kind alle Aktivitäten bestimmen. Der Erwachsene bewertet nicht. Er fokussiert sich auf das Positive, alle Alltagsprobleme werden an die Seite gestellt. Vielleicht können Sie sich jetzt, in diesem Augenblick Ihren Kalender nehmen und für jedes Kind ein solches Zeitfenster im Kalender notieren. Vielleicht hilft es, ein Schild zu schreiben: „Jetzt ist Leonies Zeit!“ und einen Wecker zu stellen. Ihre Kinder werden diese Zeit ungemein genießen - und Sie auch!

 

8.) Wenn alle Stricke reißen!

Sollten Probleme zu massiv werden und Sie merken, dass sich der Alltag nur noch um Schule und Schwierigkeiten dreht, nehmen Sie Hilfe in Anspruch! Dies ist keine Schande! Nach Aussage der Marburger Psychologie-Professorin Hannah Christiansen, eine ausgewiesene ADHS-Expertin, leiden 50% der Europäer unter psychischen Problemen. D.h. psychologische Herausforderungen sind „normal“! Es gibt eine Vielzahl an nachgewiesen effektiven Hilfen. Problematisch ist die Tatsache, dass diese zu spät in Anspruch genommen werden. Hier gilt der weise Satz vieler Großmütter: „Je früher desto besser!“

Weitere Hilfen finden Sie bei den Schulpsycholog*innen der Staatlichen Schulämter, in den Lernwerkstätten des Kultusministeriums, in den Beratungs- und Förderzentren (BFZ) und bei den UBUS-Kräften an den Schulen, um nur einige zu nennen. Für uns alle gilt: Wir wollen helfen!

 

Tipps für Lehrkräfte

 

1.) Setzen Sie klare Strukturen! Diese werden oft im Spiel erlernt.

ADHS ist für die Betroffenen durch ein dauerhaftes Überflutungserleben gekennzeichnet. Dies setzt sie unter Dauerstress. Wird der Stress zu groß, handeln sie ungünstig: Sie reagieren fahrig, schauen ständig aus dem Fenster, wackeln mit dem Stuhl und werden - nicht selten - aggressiv. Unbeabsichtigt schädigen sie dadurch andere.

Kommt die Lehrkraft zu spät oder berücksichtigt sie das Bewegungsbedürfnis der Kinder zu Beginn einer Unterrichtsstunde nicht, trägt dies zur Überflutung bei. „The first five minutes!“ sind entscheidend. Sie geben die Stimmung für den Rest des Tages vor. Eine große Unterstützung für Menschen mit ADHS stellen deshalb kurze dynamische (altersgerechte!) Übungen dar (z.B. Krowatschek et al., 2011). Sind diese gefolgt von einer Geschichte, einem Entspannungsrätsel oder einer strukturierten Entspannungsübung (in Form einer Erzählung), schafft die Kombination aus Bewegung und Ruhe die Voraussetzungen für konzentriertes Arbeiten (Wingert et al., 2015, Petermann, 2001, Krowatschek, 2009).

 

2.) Seien Sie transparent in Ihren Erwartungen!

Viele Probleme entstammen Missverständnissen. Seien Sie deshalb klar und eindeutig in Anweisungen, d.h.:

  • verwenden Sie möglichst kurze Sätze (im Idealfall bestehend aus maximal fünf Wörtern), wenn Sie eine Anweisung geben.
  • loben Sie deutlich dasjenige Verhalten, das Sie sich von dem Schüler / der Schülerin wünschen und seien Sie dabei spezifisch: „Ayce, Du hast gerade Deinen Stift an Deine Nachbarin verliehen. Das war sehr hilfsbereit. Prima!“
  • ignorieren Sie negative Verhaltensweisen, benennen Sie aber die positive Alternative: „Drei Kinder können sich schon prima leise melden!“ Bemüht sich der Schüler / die Schülerin daraufhin, loben Sie ihn oder sie: „Jetzt können es auch Janine und Niclas, prima!“ (Ignorieren mit positivem Modell).
  • verwenden Sie ein Leisezeichen! Dies kann folgendermaßen aussehen: Die Lehrkraft hebt eine Hand, legt gleichzeitig den Zeigefinger der anderen zu einem „Psst- Zeichen!“ vor die Lippen und sagt: „Leisezeichen!. Nun beobachtet sie die Gruppe und wartet ab, bis alle Kinder das gleiche Zeichen praktizieren. Wenn es absolut leise und kein Geräusch mehr zu hören ist, zählt sie innerlich bis zur Zahl „Drei“. Danach bedankt sie sich für die Unterstützung, lobt die Klasse („Gut, ihr habt mir sehr geholfen.) und beginnt erst dann mit dem Unterricht.

 

3.) Definieren Sie Prinzipien des Umgangs miteinander und leiten Sie daraus Regeln ab!

Der prinzipienorientierte Unterricht baut auf den Werten auf, die eine Lehrkraft mit ihren Schüler*innen vereinbart hat. Er geht über das reine Vermitteln von Regeln hinaus. Es wird deutlich, dass Unterricht kein Selbstzweck ist. Genauere Informationen finden Sie hier: Wingert, 2018, und bei der Marburger Schulpsychologie, Gordon Wingert, 06421 616 530.

 

4.) Führen Sie gegebenenfalls ein Konzentrationstraining bei einzelnen Kindern durch!

Haben einige Kinder besondere Schwierigkeiten in der Konzentration, kann ein Training im Rahmen des regulären Unterrichts nützlich sein. Dies baut man beispielsweise in Gruppenarbeitsphasen ein. Während die anderen Kinder ihre Aufgaben bearbeiten, trainiert die Lehrkraft gezielt mit einzelnen Kindern, sich selbst flüsternd bei der Aufgabenbearbeitung zu begleiten. Dazu verwendet sie zunächst einfache Arbeitsblätter und geht folgendermaßen vor:

 

  1. Die Lehrkraft gibt ein Arbeitsblatt. „Was soll ich tun?“ fragt das Kind und liest laut die Aufgabenstellung vor.
  2. Der Schüler oder die Schülerin wiederholt in eigenen Worten die Arbeitsanweisung. Dabei achtet die Lehrkraft darauf, dass die Beschreibung vollständig und in ganzen Sätzen erfolgt. Sie fragt nach und korrigiert, wenn dies notwendig ist. Ist die Aufgabe eindeutig verstanden, beginnt das Kind mit der Bearbeitung.
  • Das Kind vollzieht die Teilschritte des Arbeitsauftrags, während es laut zu sich spricht. Dies nennt man: verbale Selbstinstruktion. Dadurch leitet es sich selbständig bei der Lösung an. Die Lehrkraft fungiert als Trainierende*r: Sie lobt jede korrekte Versprachlichung, weist auf Ungenauigkeiten hin und korrigiert Fehler.
  1. Tritt ein Fehler auf, verbessert das Kind diesen. Die Lehrkraft vermittelt eine wohlwollende Grundhaltung. Vergleichbar mit einem Mantra gibt sie zunächst folgenden Satz vor: „Du hast einen Fehler gemacht. Das ist nicht schlimm, Fehler kann man verbessern. Danach ist es wieder richtig.“ (Dieser sollte dem eigenen Stil der Lehrkraft angepasst und authentisch vermittelt werden). Besonders unkonzentrierte Kinder empfinden Fehler als sehr dramatisch. Ein Teil verweigert dann die Weiterarbeit. Sie sollen lernen, dass Fehler zum Alltag gehören und sie die Fähigkeit besitzen, damit umzugehen.
  2. Die Korrektur des Fehlers wird von der Lehrkraft gelobt („Toll, wie gut Du das verbessern konntest!“).
  3. Am Ende kontrolliert das Kind eigenverantwortlich das Aufgabenblatt und lobt sich selbst für seine Leistung: „Das habe ich gut gemacht!“. Auch die Lehrkraft würdigt die gezeigte Anstrengung.

 

5.) Verwenden Sie Punktepläne!

Bei motorisch unruhigen und unkonzentrierten Kindern zeigen sich oft unerwünschte Verhaltensweisen, die allein durch soziale Bekräftigung des erwünschten Verhaltens (Lob, Lächeln, anerkennender Gesichtsausdruck) nicht zu reduzieren sind. Manchmal müssen bestimmte Verhaltensweisen schnell aufgebaut werden, damit sich die Situation des Kindes verbessert. Insbesondere bei Kindern mit ADHS hat sich in solchen Fällen der Verstärker- bzw. Punkteplan bewährt.

Punktepläne finden vor allem dann Verwendung, wenn:

  • eine Verhaltensweise nicht durch soziale Bekräftigung zu verändern ist oder
  • eine neue Verhaltensweise schnell aufgebaut werden soll.

Ähnlich wie beim Lob werden Kinder bei dieser Methode für bestimmte Verhaltens- weisen verstärkt. Dies geschieht durch sogenannte Tokens (Punkte). Zeigt das Kind eine vorher festgelegte Verhaltensweise, bekommt es dafür eine zuvor abgesprochene Anzahl von Tokens. Hat es eine gewisse Anzahl an Tokens erreicht, kann es diese gegen einen Preis eintauschen. Tokens gelten somit als „Ersatzverstärker“, erlangen selbst Attraktivität und damit Bekräftigungswert. Zudem geben sie – wie das Lob – eine Rückmeldung über das Verhalten und steigern damit das Bewusstsein, etwas richtig machen zu können. Benötigen die Kinder zu einem späteren Zeitpunkt keine materiellen Tokens mehr, reicht auch wieder das soziale Lob. Tipp: Beim Punkteplan gibt es einige Besonderheiten zu beachten. Lassen Sie sich vor der Anwendung beraten. Viele glauben, die Methode verstanden zu haben und richten durch Halbwissen mehr Schaden an, als dass sie Gutes tun. In den Staatlichen Schulämtern können Sie sich durch Schulpsycholog*innen beraten lassen. Diese sind fundiert in der Anwendung ausgebildet und helfen Ihnen gerne weiter.

 

6.) Nehmen Sie sich Zeit für den gezielten Beziehungsaufbau!

Der amerikanische Schulentwickler Randy Sprick betont vor dem Hintergrund einer Vielzahl an wissenschaftlichen Untersuchungen die Bedeutung der Beziehung von Schüler*innen zu ihren Lehrkräften. Erfahrungen aus dem Unterricht und der Beratung bestätigen dies: Wie oft hört man folgenden Satz von Eltern: „Mein Kind lernt doch nicht für die Schule. Er / Sie lernt für die Lehrkraft!“? Wie viele Grundschulkinder berichten uns, dass sie „die beste Lehrkraft der Welt“ haben?

Neben dem psychologischen Wohlbefinden hat der Grad der (positiven) Beziehung zu Lehrkräften einen direkten Einfluss auf die Anstrengungsbereitschaft von Schüler*innen und dadurch indirekt auf die Leistung: Junge Menschen, die sich gemocht fühlen, strengen sich mehr an! Die Beziehung ist der zweitwichtigste Faktor für den Erfolg von Unterricht, Therapie und allgemeinen Veränderungsprozessen (Assay & Lambert, 1999).

Eine positive Beziehung ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von bewusster Anstrengung. Was sind die Erfolgsfaktoren?

  1. Das richtige Verhältnis zwischen Lob und Tadel! Dies sollte 3:1 sein. Für die Praxis bedeutet dies, dass man dreimal häufiger lobt als zu tadeln. Probieren Sie es aus: Laden Sie jemanden in Ihren Unterricht ein, dem Sie vertrauen. Er / Sie erstellt eine Strichliste darüber, wie oft Sie loben und tadeln. Ist das Verhältnis 3:1, dann verändern Sie nichts!
  2. Die Methode der wandernden Murmel (Krowatschek & Wingert, 2021)! Ist das Verhältnis nicht 3:1, dann nehmen Sie drei Murmeln in die Hosentasche. Immer dann, wenn Sie ein Lob aussprechen, wandert eine Murmel von der einen Tasche in die andere. Erst nachdem drei Murmeln „gewandert“ sind, darf wieder eine Korrektur erfolgen (Ausnahme: inhaltliche Korrekturen). Probieren Sie dies regelmäßig in Ihrer Klasse aus. Nach sechs Wochen lassen Sie die Murmeln weg und bitten Ihre Vertrauensperson erneut in Ihren Unterricht zur Beobachtung. Ist das Verhältnis 3:1, dann verändern Sie nichts!
  • Die Methode 5x10! In manchen Situationen fällt der Aufbau einer Beziehung zu einem Schüler oder einer Schülerin besonders schwer. In diesen Fällen kann es hilfreich sein, sich über den Zeitraum von sechs Wochen verteilt 10 Mal fünf Minuten bewusst mit diesem jungen Menschen zu beschäftigen. In dieser Zeit dürfen Leistungen und Probleme nicht thematisiert werden. Vielmehr geht es darum, Wertschätzung und Interesse losgelöst von Anforderungen zu signalisieren. Hiermit sind Gespräche über Hobbys, besondere Interessen und Ereignisse gemeint. Untersuchungen konnten zeigen, dass allein schon durch die investierte Zeit die gegenseitige Wertschätzung steigt.

 

7.) Tauschen Sie sich mit Ihren Kolleg*innen aus und holen Sie sich ggfs. Hilfe!

Eine nicht geringe Anzahl an Lehrkräften versucht mit Problemen, die aus ADHS resultieren, allein fertig zu werden. Sie glauben, das sei Teil ihrer Aufgabe und sie dürften andere nicht damit belasten. Auch wenn diese Einstellung ehrenvoll ist, so hilft sie oft nicht weiter. Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass Teamentscheidungen in der Regel Einzelentscheidungen überlegen sind. Nutzen Sie diese Tatsache und besprechen Sie sich mit Ihrem Team und holen Sie Berater*innen dazu. Hilfen finden Sie bei den Schulpsycholog*innen der Staatlichen Schulämter, in den Lernwerkstätten des Kultusministeriums, in den Beratungs- und Förderzentren (BFZ) und bei den UBUS-Kräften an den Schulen, um nur einige zu nennen. Für uns alle gilt: Wir wollen helfen!

 

Fazit: Was wirklich hilft!

Zunächst die schlechte Nachricht: Alle Hinweise, Tipps und Methoden - egal ob sie aus diesem Artikel oder einer anderen Quelle stammen - haben ihre Grenzen und nichts garantiert Erfolg! Anderes zu behaupten wäre grundsätzlich unseriös.

Die gute Nachricht: Die Kombination aus verschiedenen Maßnahmen auf individueller Ebene, also im direkten Kontakt mit jungen Menschen, und auf systemischer Ebene, d.h. einem verlässlichen System aus Beratung, Training und gegenseitiger Unterstützung, macht Erfolg wahrscheinlich. Gleichzeitig verhindert dies Überforderung. Steht die Lehrkraft am Ende alleine da und hat die Schule kein Konzept, um mit Verhaltensherausforderungen, z.B. ADHS, umzugehen, wird sie zwangsläufig an ihre Grenzen stoßen. Nicht selten ist Burn-out bei besonders engagierten Kolleg*innen die Folge.

Gleiches gilt für Eltern - ohne Unterstützung durch Schule, Trainings und ggfs. Therapie, werden auch sie überlastet.

Die Lernwerkstätten vor Ort versuchen hierbei eine Hilfestellung zu geben: Durch die Zusammenführung unterschiedlicher Akteure sollen bestmögliche Hilfsangebote geschaffen werden. Denn - wie sooft - gilt auch bei ADHS: Teamarbeit ist der Schlüssel zum Erfolg! Und darum geht es: den Erfolg (aller) Schüler*innen!

 

 

 

Literatur:

Assay, T. P., & Lambert, M. J. (1999). The empirical case for the common factors in therapy: Quantitative findings. In M. A. Hubble, B. L. Duncan, & S. D. Miller (Hrsg.), The heart and soul of change: What works in therapy (pp. 33-56). Washington, DC: American Psychological Association.

Banaschweski, T., & Döpfer, M. (2014). DSM-5 – Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 42 (4), 271–277. DOI: 10.1024/1422-4917/a000299.

Barkley, R. A. (1997). Behavioral inhibition, sustained attention, and executive functions: Constructing a unifying theory of ADHD. Psychological Bulletin, 121, 65-94.
DOI: 10.1037/0033-2909.121.1.65

Döpfner, M. & Schürmann, S. (2017). Wackelpeter & Trotzkopf: Hilfen für Eltern bei ADHS-Symptomen, hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten. Mit Online-Material und App. Psychologie Verlagsunion.

Gawrilow, C. & Blume, F. 2019. Der diagnostische Blick: Die Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung (ADHS). In: Wingert, G. Hrsg. Das neue Marburger Verhaltenstraining (MVT). Sechste Auflage. Dortmund: verlag modernes lernen, 25-30.

Grosche, M. & Volpe, R. J. (2013). Response-to-intervention (RTI) as a model to facilitate inclusion for students with learning and behaviour problems. European Journal of Special Needs Education, 28(3), 254–269. https://doi.org/10.1080/08856257.2013.768452

Krowatschek, D. & Reid, C. (2011). Die Fly reist um die Welt: Neue Entspannungsgeschichten für unruhige, unauffällige, übermütige und ängstliche Kinder. Borgmann Media.

Krowatschek, D., Krowatschek, G. & Reid, C. (2019). Marburger Konzentrationstraining (MKT) für Schulkinder. Modernes Lernen Borgmann.

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Krowatschek, D. & Wingert, G. (2019). Das neue Marburger Verhaltenstraining (MVT). Kinder wahrnehmen, stärken und begleiten. Modernes Lernen Borgmann.

Krowatschek, D. & Wingert, G. (2021). Schwierige Schüler im Unterricht: Was wirklich hilft. Borgmann Publishing.

Miranda, A., Presentación, M. J., Siegenthaler, R. & Jara, P. (2011). Effects of a Psychosocial Intervention on the Executive Functioning in Children With ADHD. Journal of Learning Disabilities, 46(4), 363–376. https://doi.org/10.1177/0022219411427349

Petermann, U. (2001). Die Kapitän-Nemo-Geschichten: Geschichten gegen Angst und Stress. Verlag Herder GmbH.

Silverstein, M. J., Faraone, S. V., Leon, T. L., Biederman, J., Spencer, T. J. & Adler, L. A. (2018). The Relationship Between Executive Function Deficits and DSM-5-Defined ADHD Symptoms. Journal of Attention Disorders, 24(1), 41–51. https://doi.org/10.1177/1087054718804347

Sprick, R. S. (2013). Discipline in the Secondary Classroom, with DVD: A Positive Approach to Behavior Management (3. Aufl.). Jossey-Bass.

Wingert, G., Vollmari, H. & Legner, B. (2015). Entspannung - pur!: Fantasiereisen für Kinder und Jugendliche. Modernes Lernen Borgmann.

Wingert, G. (2018). Prinzipienorientierter Unterricht. Schulblatt Thurgau, 4, 16 – 17.

Ziereis, S. (2014). Motorische Fähigkeiten und exekutive Funktionen bei Kindern
mit einer Aufmerksamkeitsdefizit–/Hyperaktivitätsstörung [Dissertation]. Regensburg: Universität Regensburg.